Montag, 30. Juli 2012

North Buton

Camp Anoa, 29.7.2012

Ich sitze an einem kleinen Wasserfall, einer Wasserstufe, auf einer Mini-Kiesinsel, in meinem Fluss. Hier ist mein kleiner Gegenstrompool, 50 m flussaufwärts ist mein Beach, mein Spa. Um mich herum unendliches Grün aller Schattierungen, undurchdringliches Grün, der kleine Strom reißt eine Schneise hinein und gibt den Blick auf Wolken und Stücke blauen Himmels frei. Die schnellen, neugierigen kleinen grauen Spinnen um mich herum lassen mich kalt. Das Wasser rauscht. Zikaden lärmen...

Mein Sinnieren wird von fanatisch schlangensuchenden OpWall-Researchern (Peter Taylor), -Volunteers (Josh), einem Forrest-Ranger und zwei lokalen Guides unterbrochen. So konzentriert ist Peter bei der Sache, dass er mich erst in zwei Meter Entfernung überhaupt bemerkt, obwohl ich mitten im Fluss sitze. Zu meinem Ärger für die Locals, bin ich NICHT sittlich genug gekleidet. Egal. Sie suchen mein Ufer ab und sind schon vorbei...

Beide namentlich genannten waren in den letzten Tagen schon meine Patienten, und ich bin heute Nachmittag eigentlich vor meinen weiteren Patienten im Camp in die Regenwaldidylle geflohen. Heute hat sich die Lage durchaus ein wenig zugespitzt: Über vier von 20 Schülern habe ich heute Notizen machen müssen! Abgesehen davon, dass momentan kein Leben bedroht ist, bin ich mir nicht sicher, was ich eigentlich am schlimmsten finde. Alle sind Jahrgang 1995, das ist schonmal schlimm. Man kann offensichtlich mit 16/17 seinen eigenen Zustand überhaupt nicht einschätzen. Konnte ich aber möglicherweise auch nicht, zum Beispiel war ich damals dick und hässlich. Ich bin hier froh über mein Alter, meine, räusper, Reife ;-)

Also in chronologischer Reihenfolge: Gestern Abend Fieber bei Beth, ja, sie fühlt sich heiß an, oh, Quecksilberthermometer sagt 39,7°C, sie fragt, was eigentlich normal ist (Kinder, ihr seid mit eurem Biokurs hier!!!). Gott sei Dank, sie hat seit einem Tag einen offensichtlichen, fetten Schnupfen. Lunge und Rachen frei, Haut okay, keine Lymphknoten DD common cold, bekommt Paracetamol. Erbricht mitten in der Nacht plötzlich. Da wir in einem Zwölf-Personen-Armeezelt schlafen, bin ich sofort am Ort des Geschehens. Heute früh besser, aber aufmüpfig, trinkt nicht, nimmt irgendwelche anderen Tabletten, keiner weiss mehr was und wann und wieviel und das Fieber schliesslich wieder bei 39,8°C. Ein weiteres Mädchen fühlt sich schlapp, seit Vormittag, immerhin schon 38°C, ich denke, das bestätigt meine Verdachtsdiagnose zunächst mal. Adenovirus oder so. Schön kontagiös in duesem engen Setting. Mache mir später Gedanken über Dengue und Malaria (und was nicht alles...).
Zuruck zu heute früh. Ich will mit einer Gruppe wieder in den Wald, ziehe mich gerade noch um, man ruft mich, ich denke, weil wir loswollen, aber nein, eine andere sechzehnjährige hat ihre Schnursenkel nicht zugebungen, stolpert und knallt mit ihrem Kinn auf die gegissenen Geh-Steinflecken unseres Camps. Eine Platzwunde, 3 cm lang, klafft submental, die entstehende Narbe gerade ausser Sicht aus ihrem Gesicht. Mir ist sofort klar, dass es genäht werden muss, ich verballere zweimal vier ml Lidocain zur Lokalanästhesie, und bei der ausfuhrlichen Reinigung mit Druck aus einer großen Kochsalzflasche wird das Ausmass des Unglücks in Form von hervorquellendem subkutanen Fettgewebe sichtbar. Auf jeden Fall muss das chirurgisch versorgt werden. Gut, dass ich alles dabei habe, für genau eine solche Aktion, ein Set. Mit Catgut. Absorbierbares Nahtmaterial. Im Gesicht einer Sechzehnjahrigen. Ich. Fachärztin für Innere Medizin. Catgut. Dickes Catgut.. Kurzer Ärger, es hieß von meiner Vorgängerin, wir hätten Steri-Strips in unserer Village-Clinic. Nun gut, was soll ich machen, ich versuche, unter „sterilen" Bedingungen eine tiefe 3, vielleicht nur 2,5 cm messende Platzwunde am Kinn einer Sechzehnjährigen zu nähen. Verdammt nichmal, diese Nadel ist stumpf. Ich komme kaum durch. So geht das nicht, dabei geht mehr Gewebe kaputt als wieder heil. Da sind noch andere Nadeln. In die muss man den Faden aber einfädeln. Habe ich das jemals gemacht? Faden einfädeln? Gibt es das überhaupt noch in Europa? Nein, natürlich nicht! Nun ja, für ganz spezielle chirurgische Indikationen vielleicht. Keine Bedienungsanleitung dabei, leider. Die Nadeln sind übrigens etwa dreimal so lang und dick wie sie für das Gesicht sein sollten. Pinar, sei froh, dass ich damals in Madagaskar Nahtmaterial dabei hatte, auch, wenn wir es nicht gebraucht haben...
Ich bohre mich durch Haut und diesmal hängt es dort, wo der Faden eingefädelt ist. Gott sei Dank hält die Lokakanästhesie! Nach drei Stichen sind die Wundränder halbwegs adaptiert. Es blutet auch nicht mehr. Werde es baldmöglichst
wieder öffnen und mit Steristrips versorgen. Hoffentlich ist das Catgut dann nicht schon mit dem Gewebe verbunden. Dann schneide ich eben nur den Knoten auf. Oh Mann. Expeditionsmedizin, ich habe es ja so gewollt. Letztlich bin momentan nur ich kompetent, das zu tun, was getan werden muss.

Es gibt noch viel zu erzahlen von den Tagen hier, wir haben zum Beispiel eine nicht beschriebene Eidechsenart mit blauleuchtendem Schwanz entdeckt, und ich habe mich neun Stunden lang buchstäblich quer durch den Dschungel geschlagen, über Stock und Stein, Berge hoch und runter, Rattan hat seine fiesen Spikes in meinen Körper geschlagen und ich habe so einige Insekten und Reptilien und Amphibien kennengelernt, aber diese Geschichten muss ich ein anderes Mal erzählen. Auch von Reis, Nudeln und gekochtem Ei ohne alles. Von der ersten Schülergruppe hier letzte Woche, die viel netter war. Von dem Mädchen, das im Tauchcamp eine Insel weiter reanimiert und evakuiert werden musste. Vor allem aber von den Augenreflexen der Spinnen. Sie sind, bei Nacht betrachtet, im wahrsten Sinne des Wortes überall. Kleine leuchtende Glimmer. Überall.

Morgen fahren wir nämlich zurück ins Hauptcamp im Village, Labundo-Bundo. Ich werde den Ort hier vermissen. Mein glasklarer Fluss, die relative Kühle des Urwaldes hier, die Leute, die ich jetzt nach einer Woche halbwegs kennengelernt habe, also die Opwall-Mitarbeiter, die kommende Woche in anderen Nodecamps sein werden und natürlich die Locals hier, für die diese die erste Zusammenarbeit mit Europäern ist und die inzwischen aufgetaut sind und mich zu einer Art Ansprechpartnerin gekürt haben. Die Kleinheit des Camps und die Frische des Flusses werde ich vermissen.

Ich muss noch die Strippen von meiner Hängematte abnehmen, werde ein wenig schwimmen in meiner Gegenstromanlage, mich waschen, und dann wieder zurück zu meinen Patienten dieser dämlichen Schülergruppe, die ihre Binden ins Kompostklo schmeissen.

Zehn Tage ohne Elektrizitat waren nicht so schlimm. Aber: Ich habe sehr grosse Lust, mal wieder ein Bier zu trinken. Wirklich schade, das mit dem Ramadan!

Ach ja, und ich hatte ein neues Gefühl: Ich vermisse Euch...

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